Früher Nachmittag im Pflegeheim: Im Gruppenraum der gerontopsychiatrischen Hausgemeinschaft ist der Tisch gedeckt. Die ersten Bewohnerinnen und Bewohner haben Platz genommen, und Alltagsbegleiterin Heidi Barmer sorgt für „Kaffee, Kuchen und gute Laune“. So beschreibt es ihr Kollege Markus Bähr, der im Pflegeheim als gerontopsychiatrische Fachkraft arbeitet. Heute begleite ich ihn bei seiner Nachmittags-Schicht.
Während Heidi Barmer Kaffee ausschenkt und Kuchen verteilt, geht Bähr von Zimmer zu Zimmer, um die noch fehlenden Bewohner nach ihrem Mittagsschlaf zum Gruppenraum zu begleiten.
Er klopft an die Zimmertür von Herrn Müller – der 84-Jährige schläft tief und fest. „Das würde keinen Sinn machen, den Werner jetzt aus dem Schlaf zu reißen – er kann seinen Kaffee auch später trinken!“ Behutsam zieht Bähr zieht die Tür wieder zu. Sollte Müller versuchen, sich alleine aufzurichten, schaltet sich der Bewegungsmelder an, mit dem das Bett ausgestattet ist, und Bähr wäre sofort zur Stelle.
Bähr duzt Herrn Müller und spricht ihn mit Vornamen an. Das hat er mit dessen Ehefrau, die ihren Mann täglich besucht, so vereinbart. Denn Herr Müller reagiert nicht mehr auf seinen Nachnamen. Die Bewohner ungefragt zu duzen, käme Bähr nicht in den Sinn. Respektlos sei dies. Ebenso selbstverständlich ist es für ihn, die psychisch erkrankte Frau Dr. Schwarz mit Titel anzureden. „Ich möchte ihre Lebensleistung würdigen, da gehört der Titel dazu.“
Als ich Markus Bähr im Pflegeheim begleite, merke ich schnell, wie zugewandt und freundlich er im Kontakt mit den Bewohnern ist. Während er von Zimmer zu Zimmer geht, wird er immer wieder angesprochen, zum Beispiel von Frau Winter, die dringend einen Schal haben möchte. Bähr begleitet sie in ihr Zimmer, schaut in ihrem Schrank nach – kein Schal zu finden. Gemeinsam gehen sie zu einem Wäscheschrank auf der anderen Seite des Flurs. Bähr passt sich Frau Winters langsamen Schritten an, von Eile oder Ungeduld keine Spur. Im Wäscheschrank findet er ein gemustertes Halstuch und legt es Frau Winter um. „Das steht Ihnen gut!“, sagt er und lächelt sie an. Frau Winter ist zufrieden. „Ja, das ist schön“, findet sie.
Frau Schubert liegt wach im Bett. Bähr zieht die Jalousie so weit zu, dass niemand durchs Fenster schauen kann, wenn er ihre Einlage wechselt. Dann legt er ein Handtuch unter ihre Füße, damit die Schuhe, die er ihr nun überstreift, nicht das Bettlaken berühren. Mit geübten Handgriffen hilft er Frau Schubert, sich in den Rollstuhl zu setzen. „Ich stelle das Bett höher, und dann versuche ich, mit einer Spiralbewegung nachzuempfinden, wie sie sich alleine aufrichten würde. Das schont meinen Rücken, ich muss ja auch an meine Gesundheit denken“, erzählt er.
Bevor er Frau Schubert zum Kaffeetisch begleitet, kämmt er sie, so wie er es mit jedem und jeder der Bewohnerinnen macht. Allen, die dies allein bewerkstelligen, reicht er Kamm oder Bürste.
Im Gruppenraum sitzt Alltagsbegleiterin Heidi Barmer mit am Tisch und liest eine Geschichte vor. Frido, der kleine, wuschelig-weiße Hund, wuselt zwischen Flur und Gruppenraum hin und her. Er gehört zu Ludwig Jericho, der seine Frau jeden Tag im Pflegeheim besucht. Weitere Angehörige sitzen mit am Tisch, unterstützen beim Kuchenessen und beim Kaffeetrinken, nicht nur beim eigenen Partner: Die „verschworene Gemeinschaft“, wie Bähr sie bezeichnet, hat auch im Blick, wenn ein anderer Bewohner Hilfe braucht.
„Wir sind ein offenes Haus, das gehört zum Konzept des Pflegeheims. Die Enkel der Bewohner kommen genauso zu Besuch wie Kindergarten- oder Schulkinder im Rahmen von Projekten. Die Menschen leben hier in einem geschützten Bereich, nicht in einem geschlossenen“, berichtet Bähr.
Frau Keller, die letzte Bewohnerin, an deren Zimmertür er klopft, ist unentschlossen, ob sie mit zum Kaffee kommen soll: „Ich kann so schlecht laufen!“, meint sie. Bähr, dem seine Arthrose zu schaffen macht, bemerkt trocken: „Ich auch. Aber Sie machen das gut, und es sind so nette Leute dort!“ Er nimmt ihre Hand und begleitet sie zu ihrem Platz. Man dürfe nicht vergessen, dass der Weg zum Gruppenraum für manche der Bewohner so anstrengend sei wie für jüngere Menschen ein 20-Kilometer-Lauf.
„Hier leben 13 verschiedene Persönlichkeiten mit 13 verschiedenen Demenzen oder psychischen Erkrankungen“, sagt Bähr. Nicht immer gelinge es ihm, jedem der Bewohner Trost und Zuversicht zu vermitteln. „Das muss man aushalten“, sagt er. „Manchmal ist eine Grenze erreicht.“
Auch wenn er sich selber als einen Menschen beschreibt, der durchaus mal in Hektik verfällt als ich Markus Bähr bei seiner Arbeit begleite, erlebe ich einen ruhigen, humorvollen und überaus präsenten Menschen, der zugewandt und bedacht im Kontakt mit den Bewohnern ist. „Wir versuchen, eine Atmosphäre zu schaffen, die einer Wohngemeinschaft ähnelt – und keinem Krankenhaus. Und ich denke, dass uns das hier gelingt.“ Bähr verweist etwa darauf, dass die Bewohner dank der Architektur des Hauses ihrem Bewegungsdrang nachkommen können. Er deutet auf den Innenhof mit seinen Blumenkübeln und dem Hochbeet, in dem jetzt Tomaten, Paprika und Kräuter wachsen. Bewohnerinnen haben es gemeinsam mit ihm und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen bepflanzt.
Während im Gruppenraum Clownin Lulu Volkslieder auf ihrem Akkordeon spielt, nutzt Bähr die Zeit, um die Pflege am Rechner zu dokumentieren. Jeden Tag werden dort wesentliche Informationen über die Bewohner und Bewohnerinnen festgehalten, wie zum Beispiel benötigte Medikamente, Krankheiten, Schmerzen oder die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten.
Natürlich gebe es auch Konflikte, sagt Bähr. Aber selten. Etwa wenn Angehörige sich aus Sorge um ihren Partner beschweren und ihrem Unmut Luft machen. Im Gespräch können diese Konflikte gut gelöst werden. Oder wenn nicht demenzielle Bewohner sich Bähr gegenüber im Ton vergreifen. Aber auch hier legt er Gelassenheit an den Tag: „Wir sind alles Menschen, nicht jeder kann mich mögen, das ist normal. Trotzdem fordere ich einen anständigen Umgang ein.“
Auch nach 22 Jahren im Pflegeberuf möchte Markus Bähr das befriedigende Gefühl nicht missen, das sich tagtäglich einstellt, wenn er eine Schicht gut „bewältigt“ hat: „Hier ist jeder Schritt, den ich tue, sinnvoll, das ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil im Berufsleben! Nach 22 Jahren in der Pflege hat sich für mich nichts daran geändert.“ Und dann fügt der studierte Geologe noch hinzu: „Auch in der Pflege kann man sich beliebig intellektuell einbringen. Wer sagt, das ist ihm zu blöd, der ist blöd. Denn hier ist man gefordert, auch geistig.“