Wenn ich zaubern könnte, würde ich Herrn Raabe in einen kleinen Jungen verwandeln. Dann würde ich ihn adoptieren und ihm jeden Tag ins Ohr flüstern, wie liebenswert er ist. Ich würde den kleinen Herrn Raabe drücken und herzen und ihm über sein Köpfchen streichen. Aber ich kann nicht zaubern. Deshalb bleibt Herr Raabe der alte Mann, der müde und traurig durch sein Leben tappt.
„Entschuldigung!“, sagte er gestern zu mir, als ich ihn an der Supermarktkasse mit meinem Einkaufskorb streifte. Wir plauderten über die Frühlingssonne, die Pfingstrosen in seinem Garten und dass ein kleiner, feiner Regen der Natur gut tun würde. „Ich bin gleich weg!“, sagte er, als Frau Bonetti ihm das Wechselgeld reichte. Hastig verstaute er seine Einkäufe.
„Immer mit der Ruhe!“ Frau Bonetti schaute erst zu Herrn Raabe, dann blickte sie mahnend in die Reihe der wartenden Kunden.
„Ich hab‘ Zeit!“, bekräftigte ich und hob das Centstück auf, das Herrn Raabe aus der Hand gefallen war.
„Entschuldigung!“ Herr Raabe schüttelte den Kopf. Er schüttelte den Kopf und sah dabei so traurig aus, dass ich mir wieder sehnlichst meinen Zauberstab herbeiwünschte.
Herr Raabe ist ein „Bankert“. Bis vor wenigen Wochen kannte ich dieses böse Wort nicht. Und auch Ilona hat es das erste Mal vor einem Jahr aus dem Mund ihres Vaters gehört. Damals lag Herr Raabe im Krankenhaus, und niemand wusste, ob er sich von seinem Sturz auf der Kellertreppe je wieder erholen würde. „Da hat mein Vater endlich mit mir geredet, richtig geredet, meine ich, nicht vom Wetter oder dem Stau auf der A81. Und er hat mir das erste Mal in meinem Leben gesagt, dass er mich lieb hat. Unglaublich, oder?“
Als ich Ilona ansah, verkniff ich mir die ironische Bemerkung, das sei doch nicht weiter tragisch, sie sei doch erst zarte 52 Jahre jung. Was denn nun ein Bankert sei, wollte ich wissen. Sie wischte auf ihrem Smartphone, dann las sie langsam vor, damit ich die Bedeutung dieses Unwortes auch ja verstand: „Ein Bankert ist ein uneheliches Kind, heute ungebräuchlich, gelegentlich wird es noch als Schimpfwort verwendet. Das Wort entstammt dem mittelhochdeutschen Begriff banchart und bezeichnet ein Kind, das auf der Bank und nicht im Ehebett gezeugt ist. Der zweite Wortteil besteht aus dem in Männernamen üblichen –hart (wie in Bastard).“
Karl Raabe kam 1946 zur Welt. Das Wort Bankert hat er das erste Mal aufgeschnappt, als er mit anderen Kindern auf der Straße spielte. Der kleine Karl fragte seine Mutter, warum seine Spielkameraden ihn so nennen würden. Sie antwortete barsch, dass sie das Wort noch nie gehört hätte und es auch nicht noch einmal hören wollte.
Karl hatte an einem Tabu gerührt, ohne zu wissen, was ein Tabu ist. Seine Mutter schwieg an diesem Tag, wie so oft, und war für den siebenjährigen Karl unerreichbar, so sehr er sich auch um ihre Aufmerksamkeit bemühte. Karl wusste, dass er sich jetzt noch mehr anstrengen musste, ein braver Junge zu sein. Nur dann würde sie ihn wieder beachten. Er half ihr beim Tischdecken, er trug den Müll in den Hof, reichte ihr ein Glas Wasser, als sie müde auf dem Bett saß. Aber seine Mutter sah durch ihn hindurch. Kein Wort, keine Geste, keinen Blick konnte er der starren Frau entlocken. Karl wusste, er hatte wieder etwas falsch gemacht. Schlimmer noch: Er selber war falsch, das fühlte er. Warum sonst würde seine Mutter ihn abweisen? Als sie nach drei langen, bangen Tagen wieder mit ihm sprach, legte er sich auf sein Bett, zog die Decke über den Kopf und weinte. Seine Mutter durfte seine Tränen nicht sehen, sonst würde sie böse werden und erneut in Schweigen verfallen. „Sei doch nicht immer so eine Memme!“ Mit diesem Satz wuchs er auf und blieb klein. Karl musste auf der Hut sein, tagein, tagaus, damit er keinen Fehler machte und Mutter verärgerte.
Karl Raabe war ein Nachzügler, das vierte und letzte Kind seiner Mutter. Ihr Ehemann war vom Russlandfeldzug nicht heimgekommen. Und Karls leiblicher Vater ging schon Ende 1945 nach Pennsylvania zurück. Er hat nie erfahren, dass er in Deutschland einen Sohn gezeugt hat.
„Du bist das Produkt einer Bratkartoffel-Beziehung! Du gehörst gar nicht richtig zu unserer Familie!“ Das hatte ihm seine älteste Schwester voller Zorn an den Kopf geworfen, als er sieben Jahre alt war. Sie wollte ihren kleinen Bruder verletzen, so tief wie möglich. Warum, das weiß Herr Raabe heute nicht mehr. Aber der Plan der Schwester ging auf: Herr Raabe war verletzt, so tief wie nur irgend möglich. Als er sie fragte, was das sei, eine Bratkartoffel-Beziehung, lachte sie höhnisch. Ob er sich noch nie gefragt hätte, von wem er diesen hässlichen Mund und diese komische Augenfarbe hätte? Der kleine Herr Raabe stürmte aus dem Haus, über die Straße, den Marktplatz, nur weg, weg, bis zum Flussufer. Dort saß er und starrte aufs Wasser. Bratkartoffel-Beziehung. Das war das einzige Wort, das in seinem Kopf herumtobte.
Endlich verstand er die abschätzigen Blicke, die ihm die alte Frau Dauner aus dem Haus gegenüber so oft zuwarf. Das mitleidige Lächeln der Bäckerin, die ihm ab und zu einen Lutscher zusteckte. Und er verstand das Getuschel der Nachbarn, die auf dem Gehweg die Köpfe zusammensteckten und so taten, als bemerkten sie ihn und seine Mutter nicht, wenn sie mit schweren Einkaufsnetzen bepackt an ihnen vorbeischlichen.
Jetzt wusste der kleine Herr Raabe Bescheid: Er war der lebende Beweis für die Ungeheuerlichkeit, dass seine Mutter ihren Mann mit den Besatzern betrogen hatte. Und zwar nicht aus Liebe, sondern aus Hunger. Er war der Sohn eines „Ami-Liebchens“. Und er war schuld daran, dass seine Mutter verachtet wurde. Dass sie nach dem Tag in der Fabrik noch müde am Küchentisch sitzen und Hemden in Heimarbeit nähen musste. Denn der Staat unterstützte die Mütter von Besatzungskindern mit keinem einzigen Pfennig. Und wieder einmal beschloss der kleine Herr Raabe, sich noch mehr anzustrengen und ein noch unscheinbarerer Junge zu werden.
„Das ist er geblieben, zeit seines Lebens“, erzählte mir Ilona. „Ein netter, unscheinbarer Mensch. Sein Lebensziel bestand darin, nicht anzuecken. Meine Mutter hat seine Meinungslosigkeit und sein ewiges ‚Ja‘ in den Wahnsinn getrieben. Aber das ist eine andere Geschichte.“
„Überlebensprostitution – so hieß das nach dem Krieg“, sagte ich. „Das hat sich deine Oma nicht ausgesucht.“
„Nein, das hat sie sich nicht ausgesucht“, sagte Ilona langsam. „Aber dass sie meinen Vater wie ein Stück Dreck behandelt hat – das hat sie sich ausgesucht.“
Mir hat Herrn Raabes Schicksal keine Ruhe gelassen, und ich habe mich auf die Suche nach Literatur über Besatzungskinder gemacht. In der Stadtbibliothek bin ich auf das lesenswerte Buch von Silke Satjukow und Rainer Gries gestoßen: „Bankerte!“, Besatzungskinder in Deutschland nach 1945 (Campus Verlag, Frankfurt/New York, 2015). Ilona wollte es ihrem Vater geben. Aber Herr Raabe hat abgewinkt: Er sei alt, das interessiere ihn alles nicht mehr. Und ob er das Buch lesen würde oder nicht – er hätte nie genügt und würde es auch seine letzten Jahre nicht.
Etwa 400.000 Besatzungskinder wurden nach dem Krieg in Deutschland gezeugt. Wie der Vater von Herrn Raabe kehrten die meisten Soldaten der Besatzungsmächte in ihr Heimatland zurück, ohne von ihrer Vaterschaft zu wissen.
Viele der Frauen wurden diskriminiert und als „Ami-Liebchen“, „Russenhure“ oder „Britenschlampe“ beschimpft. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um „Versorgungsbeziehungen“ – wie bei Herrn Raabes Mutter oder um Liebesbeziehungen handelte. Erfuhren die Militärbehörden von einer Vaterschaft, wurden die Soldaten bestraft oder gleich in ihr Heimatland versetzt.
Auch finanziell waren die Mütter von Besatzungskindern benachteiligt: Schon im Oktober 1945 hatte der Alliierte Kontrollrat festgelegt, dass die Frauen weder auf Unterhalt noch auf die Anerkennung der Vaterschaft klagen durften. Die deutschen Behörden sahen sich für die „Kinder vom Feind“ ebenfalls nicht zuständig.