Heute habe ich mit Frau Petersen getanzt. Seit ihr Mann nicht mehr so gut zu Fuß ist, begleite ich sie einmal im Monat zum Tanzkränzchen im Seniorenheim. Frau Petersen ist eine begeisterte Tänzerin: Wenn Herr Ohler ein Lied auf seinem Akkordeon anstimmt, hält sie nichts auf ihrem Stuhl. „Gelernt ist gelernt“, meinte sie, als ich sie fragte, warum sie so gut tanzen könne.
Frau Petersen hat als junges Mädchen die Tanzschule Stolze besucht. Fräulein Stolze hatte das Nebenzimmer vom Gasthof Krone gemietet. Dort hat sie der Jugend nicht nur Cha-Cha-Cha, Slow fox und Walzer beigebracht, sondern auch die Benimm- und Anstandsregeln der Erwachsenenwelt.
„Wir Mädchen saßen in einer langen Stuhlreihe, die Hände sittsam ineinander gelegt. Dann traten die jungen Männer vor uns, verbeugten sich und forderten uns zum Tanz auf“, hat Frau Petersen erzählt. Ob sie nicht aufgeregt war? Wenn der dumme Angeber oder der Klassenkasper vor ihr gestanden hätte? „Ich habe immer gebangt und gehofft, dass ich nicht mit dem ungelenken Sohn vom Schuhmacher Petersen tanzen musste“, sagte Frau Petersen und lachte.
Wenn der Junge „sein“ Mädchen auf die Tanzfläche geführt hatte und sich die Paare verlegen lächelnd gegenüber standen, stöckelte Fräulein Stolze zum Plattenspieler. Unendlich langsam ließ sie den Tonarm auf dem Slowfox nieder, der an diesem Tag auf dem Programm stand. Und dann ging es los: rechts, links, zurück, Drehung, Wie-ge-schritt. Bis Fräulein Stolze in die Hände klatschte, den Plattenspieler mitten in der schönsten Drehung stoppte und „mehr Eleganz, meine Damen und Herren, mehr Eleganz!“ forderte.
„Verzeih‘, mon ami, doch es ist schon spät …“ – Günther Schnittjers Hit aus dem Jahr 1954, in dem der Sänger das Vergehen der Zeit beseufzt, verzückt Frau Petersen noch heute. Ich hatte das Knistern der Schallplatte im Ohr, den Einsatz des Orchesters und die warme Stimme Schnittjers, als ich vor wenigen Monaten bei Frau Petersen auf dem Sofa saß und sie mir von dem Lied vorschwärmte. Ihr Mann hatte damals kurz den Kopf durch die Tür gesteckt und sie angegrinst. Frau Petersen hatte gelacht und ihn mit einer wedelnden Handbewegung aus dem Wohnzimmer gescheucht.
Zum Tanzkränzchen zieht Frau Petersen sich besonders schick an. Heute trug sie eine zartgrün gemusterte Bluse und einen weiten, schwingenden Rock. Nur ihre Füße steckten in Gesundheitsschuhen. Als ich ihr sagte, wie gut ihr die Bluse stehe, winkte sie ab. „Du hättest mich mal auf unserem Abschlussball sehen sollen! Da sah ich schick aus mit meinem hellblauen Cocktailkleid. Das war zwar hochgeschlossen bis zum Hals, und nicht ein Zentimeter von meinen Knien war zu sehen. Aber so was von elegant!“
Herr Ohler zog langsam an unserem Tisch vorbei und spielte die ersten Takte von Lolitas „Seemann, deine Heimat ist das Meer!“ Ein Blick von Frau Petersen genügte und ich stand auf. Für sie war selbst der Slowfox eine leichte Übung, und ich schaffte es immerhin, ihr nicht in die Quere zu kommen.
Als ich sie um halb sechs nach Hause begleitete, war sie merkwürdig still. „War wieder schön heute, oder?“, versuchte ich ein Gespräch. Frau Petersen schwieg.
„Herr Ohler war eine tolle Lolita!“, versuchte ich es erneut. Frau Petersen blieb stehen und sah mich an. „Als Helmut und ich schon verlobt waren, sind wir aufs Dorffest nach Nußdorf geradelt. Wir haben getanzt, gelacht und hatten so viel Spaß! Und als die Kapelle den Seemann spielte, hat Helmut mich geküsst, ganz kurz und ganz schnell.“
Ich sehe die jungen Petersens über das Parkett wirbeln, ich sehe den scheuen Kuss, den der Schustersohn seiner Roswitha auf die Wange drückt. „Wie schön!“, sage ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll.
„Das fand Pfarrer Schallmayer nicht. Er hat uns am Sonntag in seiner Predigt die Leviten gelesen, wegen unsittlichen Verhaltens. Unsere Namen hat er nicht genannt; aber jeder wusste, dass er uns meinte. Das Schlimmste war, dass ich mich für etwas geschämt habe, über das man sich nur freuen sollte.“ Mit einem Ruck zog Frau Petersen den Reißverschluss ihrer Jacke hoch. Langsam gingen wir weiter.
„So ein Depp“, sagte ich.
„So etwas sagt man nicht.“ Und nach einer kurzen Pause fügte Frau Petersen hinzu: „Aber Sie haben recht. Und meinen Seemann lass ich mir von dem Deppen nicht noch einmal vermiesen.“