Schlesischer Mohnkuchen

Gestern habe ich Frau Weimer getroffen. Sie saß an einem der kleinen Tische vor der Bäckerei Engler und nippte an ihrem Espresso, eine Decke über die Beine gebreitet. Ich schob ihren Rollator zur Seite und setzte mich neben sie.


„Meine Mutter schickt Grüße!“, sagte ich und riss mein Zuckertütchen auf. Ich hatte schon seit ein paar Tagen nicht mehr mit meiner Mutter gesprochen. Aber seit Frau Weimers Mann gestorben ist, lüge ich mir die Grüße meiner Mutter herbei. Dann lächelt Frau Weimer, und das geschieht selten seit dem Tod ihres Mannes. Manchmal befürchte ich, dass sie ihr Lächeln zusammen mit ihrem Kurt zu Grabe getragen hat.

„Danke, Kindchen“, sagt Frau Weimer und lächelt.


Als die Siedlung am Ortsrand gebaut wurde, waren Weimers und wir eine der ersten Familien, die in die neuen Reihenhäuser gezogen sind. Und Frau Weimers Söhne, mein Bruder und ich waren die ersten Kinder, die die damals noch halb leere Siedlung erkundet haben. Heimlich sind wir durch die Rohbauten geschlichen und auf Rollschuhen über die Plattenwege gerast. Ich habe bei Weimers mindestens so oft am Küchentisch gesessen wie bei uns zu Hause.


Während wir Kinder durch die Siedlung stromerten, steckten meine Mutter und Frau Weimer die Köpfe zusammen. Sie aßen Käsekuchen, tranken Kaffee und waren glücklich, weil sie endlich mit einer sprachen, die genau wusste, wie es sich anfühlte, ein Flüchtlingskind zu sein.


Frau Weimer stammt aus Vierzighuben, einem Dorf bei Königsberg. Am 11. Januar 1945 ist sie mit ihren beiden älteren Schwestern geflohen, zunächst im Panzer mit Soldaten der Wehrmacht, dann auf einem Pferdefuhrwerk. „Meine Mutter hat sich geweigert, den Hof und die Tiere zu verlassen. Sie wollte auf meinen Vater warten, der war an der Front. Ich war elf, meine Schwestern 19 und 20. Über zwei Jahre habe ich meine Eltern nicht gesehen. Kannst du dir das vorstellen?“


Ich hatte pflichtschuldig den Kopf geschüttelt und kam mit dem Festhalten ihrer Erinnerungen kaum hinterher. Mein Bleistift raste über das Schulheft. Ich musste für ein Geschichtsreferat Zeitzeugen befragen, die während des zweiten Weltkriegs geflüchtet waren. Meine Mutter hatte sich geweigert, auch nur ein Wort darüber zu verlieren. „Das ist alles so lange her“, hatte sie abgewinkt. „Ich erinnere mich kaum noch.“ Dabei hatte ich die Wörter Treck, Haff und Gustloff unzählige Male aufgeschnappt, wenn sie mit Frau Weimer auf unserer Terrasse gesessen hatte. Aber auch dieses Argument änderte nichts am Entschluss meiner Mutter. Sie schwieg.


So war es Frau Weimer gewesen, die mir an einem langen Nachmittag von ihrer Flucht aus Ostpreußen erzählte. Sie erzählte von ihrer Schwester Erika, die vom Pferdewagen sprang, um einer Leiche am Wegrand den Mantel vom Leib zu zerren. Sie erzählte vom zugefrorenen Frischen Haff, von Pferdefuhrwerken, die im Eis einbrachen, von den Schreien der Menschen, die im Wasser versanken. Sie erzählte von der überfüllten Deutschland, auf der sie von Danzig nach Dänemark gefahren ist. Von der Gustloff, mit der sie ursprünglich hätte fahren soll, die aber schon zu voll war. Und vom gekochten Fisch erzählte sie, den sie Tag ein, Tag aus im Flüchtlingslager im dänischen Oksbøl aßen, zwei Jahre lang, und dessen Geruch sie noch heute würgen lässt.


Irgendwann, mit 14 Jahren, ist Frau Weimer dann in Dümmer, einem Dorf in Mecklenburg, gelandet. „Frag mich nicht, Kindchen, wie wir dahin gekommen sind“, hatte sie geseufzt. „In Dümmer habe ich meinen Kurt kennengelernt, auf einem Tanzfest im Nachbarort.“ Sie hatte kurz innegehalten und den Couchtisch angelächelt. „Was für ein flotter junger Mann mein Kurt gewesen ist!“


Auch Kurt Weimer war vom Krieg nach Dümmer gespült worden. Seine Familie stammte aus Schlesien.

„Frau Weimer“, sage ich jetzt und streiche ihr über den Arm. „Haben Sie schon einmal den Mohnkuchen probiert, den es hier gibt? Den backt Frau Engler nach einem original schlesischen Rezept. Wollen wir?“

Frau Weimer nickt und lächelt.

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